Neue Studie zeigt Ausmass der Diskriminierung von LGBTIQ+ und was wir dagegen tun können Die Bevölkerung steht der LGBTIQ+ Gemeinschaft grundsätzlich offen und auch wohlgesinnt gegenüber. In Teilen der Schweizer Gesellschaft halten sich gleichzeitig Vorurteile und Intoleranz, die besonders trans und intergeschlechtliche Menschen betreffen. Sie berichten – häufiger als im EU-Durchschnitt – von einem hohen Ausmass an Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen. Dies zeigt eine neue repräsentative Befragung in der Bevölkerung und eine Prävalenzstudie unter Betroffenen.
Die Studie von gfs.bern im Auftrag von Amnesty International, Queeramnesty, Dialogai und den Dachverbänden TGNS, InterAction, Pink Cross und LOS ermöglicht Aussagen zur Akzeptanz von LBGTIQ+ Menschen und gibt Einblick in das Ausmass und die Formen queerfeindlicher Gewalt und Diskriminierung. Dabei fällt auf: Die Bevölkerung hegt mehrheitlich Sympathien und zeigt sich in der Befragung tolerant; LGBTIQ+ Personen beobachten zugleich eine Zunahme von Vorurteilen, Intoleranz und Gewalt aufgrund politischer Stimmungsmache, die sich insbesondere gegen trans und intergeschlechtliche Menschen richtet.
Die Toleranz ist begrenzt
«Sympathien und Verständnis hegt die Bevölkerung mehrheitlich bei schwulen, lesbischen und bisexuellen Personen. Bei trans oder intergeschlechtlichen Menschen sinkt das Verständnis. Vorurteile und geringere Sympathien sind hier klar stärker ausgeprägt», sagte Cloé Jans von gfs.bern anlässlich der Präsentation der Studie in Bern.
Positive Haltungen gegenüber der LGBTIQ+ Gemeinschaft sind gemäss der Umfrage insbesondere auf der Ebene von Werten und individuellen Freiheiten breit vorhanden. Doch sobald es um konkrete Rechtsgrundlagen, institutionelle Regelungen oder auch Anpassungen bei der Infrastruktur geht, nimmt die Offenheit und die Bereitschaft zur Unterstützung ab. Auch wenn es um die Sichtbarkeit unterschiedlicher Lebensformen im Alltag geht, wächst der Widerstand.
«Insbesondere männliche, ältere, politisch rechts stehende Personen und Menschen, die religiös sind, neigen dazu, sich weniger mit den Anliegen und Herausforderungen von LGBTIQ+ Menschen auseinanderzusetzen und ablehnende Haltungen zu zeigen. Ganz generell ist die Meinung relativ weit verbreitet, dass LGBTIQ+ Themen zu viel Platz im öffentlichen, medialen und politischen Diskurs erhalten würden», sagt Cloé Jans.
«Eine Mehrheit anerkennt zwar das Ausleben der eigenen Sexualität als Menschenrecht, die Hälfte der Bevölkerung stört sich aber gleichzeitig daran, wenn sich zwei Männer auf offener Strasse küssen. Zwischen theoretischer Zustimmung zu Werten und praktischer Akzeptanz im Alltag herrscht eine gewisse Diskrepanz und Widersprüchlichkeit», sagte Marc Schmid von Queeramnesty.
Jede dritte Person hat Gewalt erlebt
Ein erheblicher Teil der befragten Personen in der LGBTIQ+ Gemeinschaft hat regelmässig Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht. Beleidigungen, Bedrohungen und unangemessenes Anstarren sind für viele mehr oder weniger alltäglich.
«Schockierend ist, dass etwa jede dritte Person in den letzten fünf Jahren körperliche oder sexuelle Übergriffe erlebt hat – die meisten dieser Vorfälle werden jedoch nie gemeldet, die Dunkelziffer ist hoch», sagt Marc Schmid. «Zwar haben die zunehmende öffentliche Sichtbarkeit von LGBTIQ+ Personen sowie Fortschritte in Recht und Gesetz dazu beigetragen, Vorurteile, Intoleranz und Gewalt zu reduzieren. Die politische Agitation gegen trans und intergeschlechtliche Personen macht diese Fortschritte aber teilweise zunichte.»
«Wir möchten – wie alle Menschen – selbstbestimmt leben. Frei von Hass und Gewalt. Doch wir stehen zunehmend im Fadenkreuz von Diskriminierung und Hetze», sagt Urs Vanessa Sager von Interaction, dem nationalen Verein für intergeschlechtliche Menschen. «Wir erwarten, dass wir genauso respektiert werden wie alle Menschen und dass die Behörden unsere Rechte endlich anerkennen.»
Die Befragung der LGBTIQ+ Community stützt sich auf eine Referenzerhebung in der EU und ermöglicht erstmals den Vergleich der Schweiz mit anderen europäischen Staaten. Markant ist: LGBTIQ+ Personen in der Schweiz berichten häufiger von Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen als Befragte in der EU; besonders schlecht schneidet der Gesundheitsbereich ab.
«Wir fordern, dass Behörden und Gesellschaft ein klares Zeichen setzen, dass Gewalt und Diskriminierung nicht länger toleriert wird. Der Bundesrat und das Parlament sollen sich explizit für die bessere Akzeptanz von LGBTIQ+ Personen aussprechen und konkrete Massnahmen ergreifen», forderte Frédéric Mader vom Transgender Network Switzerland (TGNS). «Übergriffe gegen LGBTIQ+ Personen müssen konsequent strafrechtlich verfolgt und die Täterschaft zur Verantwortung gezogen werden. Zudem muss der gesetzliche Diskriminierungsschutz erweitert und verschärft werden, und Betroffene besser betreut und geschützt werden.»
Dringende Massnahmen zum Schutz von LGBTIQ+
Gemeinsam stellen Amnesty International und die wichtigsten LGBTIQ+ Organisationen der Schweiz konkrete Forderungen an Politik und Behörden zur Prävention von Gewalt und Hass und für eine grössere Akzeptanz von gesellschaftlichen Minderheitsgruppen. Konkret brauchen Betroffene jetzt Folgendes:
- Bekenntnis zum Schutz von LGBTIQ+: Die Schweizer Behörden müssen ihre Verantwortung zum Schutz von LGBTIQ+ Personen anerkennen und aktiv gegen alle Formen queerfeindlicher Gewalt und Diskriminierung vorgehen.
- Erweiterung der Diskriminierungsstrafnorm: Wir fordern die Strafbarkeit queerfeindlicher Hetze gegen trans Personen und Personen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale. Diese Gruppen sind von Hass besonders betroffen und aktuell durch die Diskriminierungsstrafnorm von Art. 261bis StGB nicht geschützt.
- Nationaler Aktionsplan: Ein Nationaler Aktionsplan gegen LGBTIQ+ feindliche «hate crimes» (Postulat 20.3820) muss zeitnah und vollständig umgesetzt werden, um Queerfeindlichkeit und Diskriminierungen abzubauen. So braucht es Sensibilisierungen in öffentlichen Institutionen, insbesondere im Gesundheitswesen, im Asylbereich, in Schulen und bei der Polizei.
- Anlaufstellen: Helplines und Beratungsstellen für Betroffene von queerfeindlicher Gewalt müssen institutionalisiert und ihre Finanzierung garantiert werden.
- Regelmässiges Monitoring: Die vorliegende Datenerhebung wurde einmalig durch die Zivilgesellschaft finanziert. Um die Wirksamkeit von Massnahmen zu messen und die Situation von LGBTIQ+ Personen langfristig zu verbessern, müssen Datenerhebungen öffentlich finanziert und regelmässig durchgeführt werden. Erhebungen des Bundes sollen durch Dimensionen von LGBTIQ+ und intersektionaler Diskriminierung ergänzt und spezifisch ausgewertet werden.